Bericht zum 3. Wissenschaftlichen Abend
Von Adrian Zienkowicz
- 6 Minuten - 1080 WörterMit der diesjährigen Hegge, die vom 20. bis zum 22. Oktober stattfindet, wollen wir uns dem christlich-jüdischen Dialog widmen. Einen wichtigen Beitrag zu diesem Thema bildete der Abend des 13. Juli auf unserem Haus.
Innerhalb eines intensiven Impulsvortrages erläuterte Prof. Dr. Wegner seine persönlichen Beweggründe, weswegen er das Amt des Landesbeauftragten gegen Antisemitismus in Niedersachsen angenommen habe. Zudem widmete er sich den historischen Hintergründen des Antisemitismus, und zeigte gegenwärtige Tendenzen auf. Im Anschluss folgte eine Runde durch das Plenum mit fundierten Fragen.
Prof. Dr. Gerhard Wegner, geb. 03.09.1953 in Hamburg, ist seit Februar 2023 als Nachfolger von Franz Rainer Enste der Landesbeauftragte gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens des Landes Niedersachsen. Als studierter Theologe (ev.) und Sozialwissenschaftler führte ihn sein Studium über Göttingen und Nairobi schlussendlich nach Marburg, wo er zum Thema Kirchliche Wahrnehmung und Wahrnehmung von Kirche 1995 habilitiert hatte. In Folge seines Vikariats von 1980-1982 kam Wegner nach Hannover-Linden. Zwischen 1991 und 1997 stand Prof. Dr. Wegner als Gründungsgeschäftsführer der Hanns-Lilje-Stiftung vor, die sich insbesondere für den »Dialog von Kirche und Theologie mit Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Kunst und Politik« (Auszug aus der Satzung) einsetzt. Zur EXPO 2000 leitete Prof. Dr. Wegner das Evangelische Expo-Büro und war zudem Direktor des Christus-Pavillons auf der EXPO. Zuletzt war Prof. Dr. Wegner von 2004 - 2019 Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover, ehe er in den Ruhestand wechselte. Von 2016 bis zuletzt war er zudem Vorsitzender des Niedersächsischen Bundes für freie Erwachsenenbildung.
Prof. Dr. Wegner ist für die SPD seit 2021 Ortsbürgermeister in Brünnighausen (Ortsteil vom Flecken Coppenbrügge)
Zum Einstieg beglückwünschte uns der Landesbeauftragte gegen Antisemitismus ebenso zu diesem wissenschaftlichen Abend, als auch zum Thema der Hegge. Seiner Ansicht nach trauen sich weiterhin zu wenige daran heran, obwohl es ein wichtiges Thema ist.
Die Taten des nationalsozialistischen Regimes, die in der Shoah ihren traurigen Gipfelpunkt nahmen, seien bis heute Gegenstand einer schwierigen Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer eigenen Geschichte. Gerade im Umgang mit der NS-Zeit unterscheiden sich die Einstellungen der Nachkriegsgeneration und deren Eltern.
Allerdings bestünde die Problematik des ausgebildeten Antisemitismus nicht mehr allein in dieser Elterngeneration. Vielmehr zeige sich weiterhin ein Phänomen des Relativierens, Leugnens, sowie des Vergleichens, wenn es um die Beurteilung der Rolle von Jüdinnen und Juden geht und wird durch die Aufrechterhaltung oder Ergänzung neuer antijüdischer Narrative begleitet.
Prof. Dr. Wegner zufolge ergehe gerade an die Deutschen eine besondere Pflicht sich mit dem Thema des Antisemitismus sorgsam auseinanderzusetzen: Der Schutz des Staates Israel, sowie des jüdischen Lebens ist spätestens mit der Rede der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Knesset 2008 als Teil der deutschen Staatsräson zu verstehen.
Wie empfänglich sind die Deutschen heutzutage für Antisemitismus?
4-5% der Bevölkerung in Deutschland bilden Wegner zufolge den harten Kern der Antisemiten, grundsätzlich seien bis zu 20% empfangbar für antisemitische Narrative.
Der Angriff auf eine jüdische Synagoge im Oktober 2019 in Halle stimmte den Landesbeauftragten nachdenklich. Aus den Protokollen ginge hervor, dass es sich um einen rational agierenden Täter gehandelt habe, dessen Motiv neben einer Pauschalkritik an monotheistischen Religionen insbesondere im Grundsatz »Vor Gott sind alle gleich« begründet lag: Dies sei mit seinem Rassenverständnis, wonach es überlegene und minderwertige Rassen gebe, nicht vereinbar gewesen.
Ende Juni veröffentlichte der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) einen neuen Jahresbericht zu Antisemitischen Vorfällen in Deutschland. RIAS ist eine unabhängige Meldestelle für antisemitische Straftaten. In Niedersachsen wird das Projekt durch die Amadeu Antonio-Stiftung getragen. Bundesweit wurden 2022 2.480 Vorfälle registriert, etwa 300 weniger als im Vorjahr.
In Niedersachsen wurden 2022 100 Vorfälle gemeldet. Der Schwerpunkt antisemitischer Vorfälle konzentriert sich auf Berlin (848), Bayern (422) und Nordrhein-Westfalen (253).
Ein Großteil der Vorfälle entsteht im Internet (33%), weitere Vorfälle
betreffen Schmierereien (z.B.: Hakenkreuze auf Grabsteinen jüdischer
Friedhöfe). Vereinzelte verbale und physische Übergriffe sind aber
ebenso registriert worden.
Auch der Lagebericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz gibt
Aufschluss über antisemitische Straftaten. Diese seien nahezu
vollständig dem rechten Spektrum zuzuordnen (~ 95%).
Eine Problematik dieser Kennzahlen betrifft laut Wegner, dass sie keine Auskunft über die Verbreitung des latenten Antisemitismus geben.
Zudem ist von einer hohen Dunkelziffer bei der Registrierung entsprechender Vorfälle auszugehen.
Verschwörungstheorien und Narrative sind ebenso Gegenstand antisemitischer Handlungen. Ein aktuelles Beispiel betrifft den Ukraine-Krieg. So wird ein Narrativ verbreitet, wonach die Vereinigten Staaten mit ihrem »Finanzkapital« bewusst den Konflikt unterstützen würden, und mit Wolodymyr Selenskyj bewusst einen Juden als Präsidenten der Ukraine installiert hätten.
Insbesondere rechte Gruppen würden spezielle Begriffe oder Codes benutzen, um entsprechende Inhalte unverfänglich an Rezipienten zu kommunizieren, ohne sich in die Gefahr möglicher Strafanzeigen zu bringen. Dieses Prinzip wird auch als dog whistling (dt.: Hundepfeifen) bezeichnet.
Wie sieht die Situation in Niedersachsen aus?
Aktuell sind in Niedersachsen zwischen 10.000 - 12.000 Personen aktiv in einer jüdischen Gemeinde gemeldet. In Hannover existieren vier jüdische Gemeinden.
Aus Niedersachsen benannte der Landesbeauftragte gegen Antisemitismus zwei Vorfälle aus Braunschweig und Lüneburg.
Bei einer Demonstration der rechtsextremen Partei Die Rechte im November 2020 in Braunschweig bezeichnete der Kreisvorsitzende, Martin Kiese, die anwesenden Vertreter der Presse als »Judenpresse« und »Judenpack.« Die Anzeige wegen Volksverhetzung wurde in Folge dessen zweimal von der Staatsanwaltschaft Braunschweig eingestellt, da diese in dem Ausruf keinen Beweis dafür sahen, dass Kiese sich grundsätzlich gegen in Deutschland lebende Juden gerichtet hätte.
Ein möglicher Strafantrag wegen Beleidigung wäre nur den damals anwesenden Pressevertretern innerhalb einer Frist von drei Monaten gestattet gewesen.
Ein weiterer Fall betrifft das Theater in Lüneburg. Diese führen das Stück Vögel von Wajdi Mouawad auf. Die Handlung orientiert sich am Shakespeare-Klassiker Romeo und Julia und behandelt eine libanesisch-israelische Liebesbeziehung.
In das Umfeld des Nahost-Konfliktes eingebettet sahen insbesondere jüdische Studentenverbände in der Aufführung Elemente von latenten Antisemitismus vertreten, forderten eine sofortige Absetzung der Vorführungen, und lösten dadurch eine Diskussion über Kunstfreiheit aus.
Während in München, wo das Stück ebenso aufgeführt wurde, von weiteren Vorführungen abgesehen worden ist, etablierte man in Lüneburg ein Einführungs-Soiree, sowie eine Podiumsdiskussion nach der Aufführung, um für etwaige Themen zu sensibilisieren.
Welche Strategien können helfen, um auf die Thematik Antisemitismus in Niedersachsen aufmerksam zu machen und den Umgang mit ebendiesem zu verbessern?
Prof. Dr. Wegner sieht insbesondere in der Ausbildung und Schulung einen zentralen Schlüssel einer erfolgreichen Aufklärung. So würden Organisationen und Verbände Schulungen zum Umgang mit Antisemitismus anbieten. Bei der Landespolizei gehöre ein verpflichtendes Modul zur Ausbildung. Gleichermaßen wird der Austausch mit jüdischen Bürgern gefördert und es finden Reisen nach Israel statt.
Im Frühjahr 2024 soll zudem mit Hilfe des Sprengel- und des Landesmuseums sowie weiterer beteiligter Organisationen und Verbände eine Ausstellung in Hannover angeboten werden. Sie soll sich der Präsentation von Portraits von Holocaust-Überlebenden widmen.